Dass ich mich im Laufe der Jahre entpuppt oder entfaltet habe, hat mir äußerst gut getan. Mein Streben nach Autonomie und innerer Freiheit hat mir immer wieder Anschub gegeben. Zurückblickend kann ich sehen, dass ich zunächst versuchte, mich zu verstehen, indem ich mich hinterfragte. Dann kam der Wunsch dazu, andere Menschen zu verstehen. Nachdem ich Forschungsarbeiten zur Entwicklung Erwachsener fand, kamen noch viel mehr Aha- Erlebnisse und Verständnis für die Prozesse dazu.
Ich möchte im Folgenden ein Ergebnis meiner Recherchen vorstellen. Vielleicht kann ich Sie anstecken mit meiner Begeisterung für Weiterentwicklung. Was hat Sie denn auf diese Seiten geführt?
Das spannende ist: Wir haben zwei Möglichkeiten, uns zu entwickeln. Eine Möglichkeit ist Ihnen bestimmt bewusst, wenn Sie einen Text lesen, ein Seminar besuchen oder etwas üben. Lernen ist eine Möglichkeit sich weiter zu entwickeln. Wir sammeln Informationen, werden besser bei dem, was wir können, und reichern unseren Erfahrungsschatz an, allerdings ohne dass sich unsere Weltsicht dabei verändert. Lernen, Erfahrungen sammeln und anwenden bedeutet auch, dass wir mit unseren Regeln und Instrumenten das Leben sinnvoll erleben, dass wir verstehen.
In Ergänzung können wir unserem „Werkzeugkasten“ neue Instrumente hinzufügen und in Bezug auf unsere Regeln flexibler werden oder sie sogar aufgeben. Wir lassen unsere (emotionalen) Halteleinen los, riskieren etwas, verlassen unserer Komfortzone und suchen oder brauchen etwas ganz Neues. Dabei kann ein Wandel stattfinden, bei dem sich auch unsere Sicht auf die Welt verändert. Die vorhandenen Muster, in die man Erfahrungen eingeordnet hat, reichen nicht mehr aus. Diese zweite Form der Entwicklung bedeutet eine Veränderung, bei der man eine höhere Stufe erreicht. Man wird differenzierter und hat mehr Abstand zu den Dingen oder Ereignissen, denen man Aufmerksamkeit schenkt.
Grundlegende menschliche Funktionen sind Denken, Fühlen und Handeln – Kopf, Herz und Hand sozusagen. Nach einem Wandel sind wir in der Lage, mehr Elemente aus all diesen Quellen (Denken, Fühlen, Handeln) gleichzeitig zu verarbeiten.
Zusammengefasst kann man sagen: Lernen bedeutet das Nutzen der Werkzeuge und Regeln, die man hat, um im Leben zu Recht zu kommen. Wandel heißt, die Menge der Werkzeuge wird größer und Regeln werden weniger oder man wird flexibler im Umgang damit.
Eine weitere Frage kann lauten: Was genau entwickelt sich, welcher Teil meiner Persönlichkeit kann in Bewegung kommen? Wir Menschen verfügen zum Beispiel über Motive und Bedürfnisse, Einstellungen und Kompetenzen, und wir sind in Interaktion mit der Umwelt. Ein weiterer Teil unserer Persönlichkeit ist das Selbst: unser Denken, Fühlen und Handeln und die Fähigkeit, all das miteinander zu verbinden. Unser Selbst kann auch als unsere Identität betrachtet werden, die muss geschützt werden. Es gibt also eine Menge Möglichkeiten, in Bewegung zu kommen, denn wir verfügen über die Fähigkeit zur Anpassung an die Umwelt. (Und es gibt vieles, das uns stoppt und eine Weiterentwicklung schwer macht.)
Für die verschiedenen Fähigkeiten eines Menschen samt der Möglichkeit der Weiterentwicklung sollen Linien als Symbol dienen. Die Linien beziehen sich auf all die Fragen, die man ans Leben haben kann:
- Kognitiv: Wessen bin ich mir bewusst?
- Selbst: Wer bin ich?
- Werte: Was hat eine Bedeutung für mich?
- Moralisch: Was sollte ich tun?
- Interpersonal: Wie sollten wir interagieren?
- Spirituell: Was ist von ultimativer Bedeutung?
- Bedürfnisse: Was brauche ich?
- Kinästhetisch: Wie sollte ich das (physisch) tun?
- Emotional: Wie empfinde ich dabei?
- Ästhetisch: Was ist für mich attraktiv?
Vermutlich geschieht Entwicklung eher in ungleicher Form: Manche Linien sind unabhängig voneinander, andere gehören enger zusammen. In manchen Aspekten entwickeln wir uns schneller, in anderen langsamer. Wenn man sich zum Beispiel in der kognitiven Linie weiterentwickelt hat, bedeutet es nicht automatisch, dass dieser Prozess auch in anderen Linien stattgefunden hat.
Und noch etwas ist wichtig bei der Weiterentwicklung im Sinne eines Wandels, einer Transformation: Es lassen sich bei einer Messung Stufen oder Ebenen der Entwicklung ausmachen, auch wenn der Wandel eines Menschen kontinuierlich verläuft. Ganz allgemein gesprochen entwickelt sich das Selbst auf einem Weg, der durch mehrere große Bereiche charakterisiert ist. Nehmen wir die ersten drei als Beispiel: Der erste Bereich wird „egozentrisch“ genannt und man kann ihn gut bei Kindern beobachten. Sie sehen sich selber als das Zentrum der Welt. Danach folgt der soziozentrische, die Zugehörigkeit zur Gesellschaft hat nun eine hohe Bedeutung, wir wollen gemeinsam etwas erreichen und Anerkennung durch die anderen erhalten. Weitere Stufen werden weltzentrisch genannt; nicht allein die Gemeinschaft, in der wir leben, hat eine hohe Bedeutung für uns, sondern wir bekommen mehr und mehr den ganzen Planeten in den Blick. Das bedeutet, wir übernehmen immer mehr Verantwortung und berücksichtigen immer mehr Bereiche der Existenz bei unseren Entscheidungen.
Im Laufe der Entwicklung nimmt die Ich-Zentriertheit weiter ab, dafür wächst die innere Freiheit und Autonomie. Man wird gelassener, unabhängiger von Belohnungen der Gesellschaft und kann viel mehr den Dingen ihren Lauf lassen. Aber: Man wird nicht automatisch ein besserer Mensch dabei! Die Entwicklung des Selbst (unser Denken, Handeln und Fühlen) findet unabhängig von einer Gesundheit-Krankheit-Dimension statt. Man wird also durch inneres Wachstum nicht automatisch ein völlig problemfreier Mensch. Es ist vor allem die Menge an Komplexität, die wir verarbeiten können und die Geschwindigkeit dabei. Wir geben den Dingen um uns herum eine Bedeutung, wir erhalten dadurch unsere Weltsicht und unser Selbstgefühl. Diese Weltsicht bestimmt unsere Identität. Mit einem Anwachsen des Weltbildes, mit der Zunahme an Komplexität, mit der wir uns das Leben erklären können, wächst auch das Selbstgefühl, eine größere Bewusstheit.
Wenn Sie das jetzt alles sehr kompliziert finden, kann ich Sie trösten: Es ist kompliziert. Ich hoffe sehr, keine Missverständnisse mit meinem Text hervorgerufen zu haben, denn das passiert nach meiner Erfahrung schnell. Man erläutert etwas, aber hat fünf andere Dinge nicht erwähnt, die auch noch dazu gehören.
Was brauchen wir, um uns selber weiter zu entwickeln? Wir benötigen einen starken Glauben an die Möglichkeiten der Menschen, an unsere Möglichkeiten und den Wunsch zur Veränderung. Wir brauchen Gelegenheiten, neue Erfahrungen zu machen oder andere Perspektiven zu erlangen. Wir müssen verletzlich werden, denn ein Schutzpanzer hält uns davon ab, wirklich neue Stufen der Sicht auf die Welt zu erlangen.
Folgende Bücher habe ich für diesen Text benutzt:
Cook-Greuter, S. R.: Postautonomous Ego Development: A Study of its Nature and Measurement, based on a dissertation presented to the Faculty of the Harvard University Graduate School of Education, 1999 revised 2000
Forman, M.D.: A Guide to Integral Psychotherapy: Complexity, Integration, and Spirituality in Practice, State University of New York Press, 2010
Gardner, H.: Intelligenzen, die Vielfalt des menschlichen Geistes, Klett-Cotta, Stuttgart, 2008
Ingersoll, R.E., Zeitler, D.M: Integral Psychotherapy: Inside out / outside in, State University of New York Press, 2010
Weinreich, W.M.: Integrale Psychotherapie, Araki, Leipzig, 2005
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